Dafür hat er seinen Alltag mit der Hilfe von Forschenden perfekt kalibriert. Um 5.25 Uhr die erste Mahlzeit (Drink aus Präbiotika, Proteinen und Ballaststoffen, 236 Milliliter), um 11 Uhr die letzte (Gemüse, Nüssen, Samen und Beeren, maximal 500 Kilokalorien). Dazu ein spezielles Sportprogramm, Meditation, Lichttherapie, vor zwei Jahren ließ Johnson sich Blutplasma seines 17-jährigen Sohnes injizieren – all das, um der eigenen Endlichkeit zu trotzen. Nach eigenen Angaben hat er durch sein Programm, das er Project Blueprint nennt, das „biologische Alter“ seiner Organe in nur sieben Monaten um fünf Jahre verlängert.
Johnson ist ein extremes Beispiel. Aber er trifft einen Nerv. Denn das Interesse an Selbstoptimierung ist hoch. Das zeigt auch, dass Netflix das Phänomen „Bryan Johnson“ in einer Doku beleuchtet. „Don’t Die: Der Mann, der unsterblich sein will“ ist seit Anfang Januar zu sehen.
Aber auch der weltweite Wellnessmarkt stellt in jedem Jahr neue Bestmarken auf. 2023 erreichte die globale Wellnesswirtschaft einen Höchststand von 6,3 Billionen US-Dollar. Das berichtet das Global Wellness Institute (GWI) im Global Wellness Economy Monitor 2024. Demnach ist die Wellnessindustrie aktuell etwa viermal so groß wie die globale Pharmaindustrie (1,6 Billionen Dollar). Seit 2013 wachse der Wellnessmarkt laut GWI jährlich um 6,5 Prozent.
„Gesundheit ist vor allem ein großer Markt, der immer weiter wächst“, sagt Friedrich Schorb. Der Soziologe arbeitet an der Universität Bremen. Im November 2024 hat er das Buch „Healthismus. Gesundheit als gesellschaftliche Obsession“ veröffentlicht. Den gesundheitlichen Optimierungstrend beobachtet er mit Skepsis. „In erster Linie profitieren Unternehmen und Privatpersonen, aber er macht die Bevölkerung nicht gesünder.“
Das liege in erster Linie daran, dass die Maßnahmen der Wellnessindustrie wie Meditationsapps oder Nahrungsergänzungsmittel individualistisch funktionieren. Nach Einschätzung von Schorb ist das jedoch kein sonderlich effektiver Ansatz. „Individuelle Stresslösungsstrategien können eine Weile funktionieren, aber nicht permanent“, sagt Schorb. Der Grund ist Überforderung. „Einerseits sollen wir uns beruflich weiterbilden, die Karriere voranbringen und gleichzeitig auf Work-Life-Balance achten, Beziehungen pflegen, uns um die Kinder kümmern. Das ist einfach zu viel.“
Zudem sei es auch problematisch, die Verantwortung für Gesundheit so sehr zu individualisieren. Ob man rauche, gesund esse oder Sport treibe, habe Einfluss auf die Gesundheit, so Schorb, aber entscheidend seien die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. „Gesellschaftliche Strukturen sind die Basis für Gesundheit, individuelle Entscheidungen die Kür – wie eine Pyramide.“ Aktuell stehe die Pyramide auf dem Kopf und die ganze Last laste auf dem individuellen Umgang mit Stress. „Das ist fatal.“
Viele Wellnessmaßnahmen bewegen sich zudem im Graubereich zwischen medizinisch Notwendigem und gesellschaftlich Verursachtem. Etwa die Abnehmspritze. „Wenn Menschen wegen ihres Körpers stigmatisiert werden, wollen sie dünn werden – auch, wenn sie keine gravierenden gesundheitlichen Probleme haben“, sagt Schorb. „Soziale Probleme werden zu medizinischen Diagnosen und füttern einen gigantischen Markt.“ Zudem ist Übergewicht selbst die Konsequenz einer Umwelt, in der hochverarbeitetes Industrieessen mit viel Salz, Fett und Zucker immer verfügbar ist. Die Abnehmspritze löst also ein Problem, das erst durch die Lebensmittelindustrie entstanden ist.
Was wirklich gesünder mache, sei einfach: medizinische Grundversorgung und ein funktionierender Arbeits- und Wohnungsmarkt. „Wir können Entspannungstechniken einbauen, aber viel effektiver wäre es, wenn wir weniger Stress hätten“, sagt Schorb. Effektive Gesundheitsvorsorge ist demnach nicht nur, was man selbst tun kann, sondern Frage der gesellschaftlichen Strukturen. „Die großen Erfolge in der Verlängerung der Lebenserwartung gehen maßgeblich auf diese Faktoren zurück – und sie werden auch künftig entscheidend sein.“
„Longevity wird auf die Lebenserwartung aktuell noch keinen Einfluss haben, auch wenn das so beworben wird. Die Methoden, die angepriesen werden, haben – wenn überhaupt – nur sehr bedingten signifikanten Nutzen“, sagt Schorb. Spannend werde es erst, wenn Gentherapien den Alterungsprozess nicht nur verlangsamen, sondern effektiv verjüngen.
Ein Lebensstil wie der von Bryan Johnson, der ihn laut „Financial Times“ jährlich 2 Millionen Dollar kostet, ist ohnehin nicht zu verallgemeinern. Es ist zudem reiner Selbstzweck. „Er will einfach nur ewig leben, um ewig zu leben“, sagt Schorb. Und das tue er so intensiv, dass es schon etwas von „Selbstkasteiung“ habe. Dabei entgeht ihm etwas anderes, was das Leben eben auch ausmacht: loslassen. „Das Leben ist mehr als das Vermeiden von Risikofaktoren“, sagt Schorb.