Der Begriff der Gamification, also die Anwendung von Spielmechaniken in einem neuen Kontext, wabert seit mehr als zehn Jahren durch die Wirtschaftswelt. Weder seine Bedeutung noch seine Anwendung ist besonders klar abgegrenzt. Gamification scheint in der einen oder anderen Form fast überall zu stecken – in sehr vielen Apps zum Beispiel.
Der Onlinedienst erklärt auf Nachfrage, Gamification werde eingesetzt, „damit Lernen Spaß macht und Menschen motiviert werden“ – damit sie dabeibleiben. Duolingo kann mit Zahlen belegen, dass der eigene Ansatz beim Sprachenlernen greift. Da wären etwa die „Streaks“, also die Zahl aufeinander folgender Tage, an denen Lektionen abgeschlossen werden. Wer lang genug dabei bleibt, kann dafür Badges und Achievements, also virtuelle Abzeichen und Fleißstempelchen, verdienen.
Wie populär das Feature ist, kann Duolingo belegen: „Über fünf Millionen Lernende“ hätten einen Streak, der über ein Jahr anhält – alles Menschen, die für mindestens ein Jahr täglich und lückenlos gelernt haben. „Für Notfälle“ hat der Onlinedienst allerdings auch einen „Streak Freeze“ im Angebot, der verdient oder gekauft werden kann. Die Serie muss also gar nicht lückenlos sein. Wird der Streak dadurch nicht entwertet?
Der Anbieter pocht darauf, dass er die Nutzung seiner App messe und schaue, wie viel Zeit tatsächlich fürs Lernen eingesetzt wird. Erhöhe sich die Lernzeit, dann werde den Menschen mehr beigebracht.
Duolingos Ansatz ist nur einer von vielen. Mit Badges, Streaks und Achievements arbeiten heute viele Apps – soziale Netzwerke, Dating- und Shopping-Apps etwa. Sogar Spiele selbst werden noch einmal gamifiziert. Populäre Free-to-Play-Spiele von „Diablo Immortal“ bis „Candy Crush Saga“ etwa locken mit Boni und Belohnungen, die sich eher um die regelmäßige Nutzung drehen als um den eigentlichen Inhalt des Spiels.
Ungefähr so alt wie der Begriff Gamification ist auch die Kritik daran. Bereits 2011 bezeichnete der US-amerikanische Gaming-Experte und Kulturwissenschaftler Ian Bogost die ganze Idee pauschal als „Bullshit“. Sie werde vor allem als Buzzword in der Beratungsbranche gebraucht. Im Magazin „Jacobin“ nannte Bill Peel im vergangenen Jahr Gamification „Ausbeutung“.
Wenn Angestellte in Fabriken, Lagerhäusern und Supermärkten plötzlich „Quests“ absolvieren sollen oder sich in einer High-Score-Liste wiederfinden, ist die Kritik nachvollziehbar: Es wirkt wie der Versuch, Überwachung zu kaschieren und unbeliebte Tätigkeiten als etwas anderes zu verkleiden.
Doch die Maßnahme am Arbeitsplatz ist erzwungen, der Streak in der App ist eine freiwillige Spielerei. Dass Gamification per se nichts Schlechtes sei, darauf pochen viele Menschen, die ihr begegnen – etwa Daniel Illy. Für den Autor, Dozent und Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie ist Gamification einfach „eine moderne Maßnahme, sich selber zu monitoren oder zu motivieren“. Apps könnten mit regelmäßigen Erinnerungen und virtuellen Belohnungen dabei helfen, dass Menschen „sich nicht mehr selbst verletzen oder mit dem Rauchen aufhören“.
Ganz neu sei die Idee zudem auch nicht, sondern eher ein „klassischer Verstärker“, erklärt Illy. Genauso funktionierten schließlich Kalenderblätter, auf denen Eltern jeden Tag Sonnen oder Wolken einzeichnen, um einem Kind bei einer Verhaltensänderung zu helfen.
Illy will in der Debatte keine Pauschalurteile gelten lassen und äußert selbst Kritik an Apps, die nur „etwas verkaufen oder Daten haben wollen“. Manipulative Verkaufstricks oder gezielte Selbstveränderung – Gamification kann beides.
Ob sie überhaupt funktioniert, und wie sie dabei wirkt, ist eine Frage des Designs. Manuel Ninaus, Psychologieprofessor an der Universität Graz, forscht unter anderem zu Lernspielen. Wenn es um Lernen gehe, müsse man zuerst die Frage beantworten, ob in der Situation „ein spielerischer Zugang überhaupt einen Mehrwert darstellen kann“, meint er. Die „Hinzunahme einzelner Spielelemente“ mache aus einer Aufgabe noch kein Spiel.
Geht es um Streaks, gibt Ninaus zu bedenken, dass „solche Verstärker unterschiedlich wahrgenommen“ werden könnten. Vielleicht würden Aufgaben nur des Streaks wegen erledigt und nicht aus „Spaß an der Aufgabe selbst“. Mit gutem Design könne „die eigentliche Lernmechanik nahe an der Hauptspielmechanik“ liegen. So könnten Spielelemente die Aufmerksamkeit auf die eigentlichen Lerninhalte lenken. Doch das „klingt leichter, als es letztendlich ist“, so Ninaus.
Wie bessere Gamification aussieht, darüber hat Jasmin Karatas nachgedacht. Sie arbeitet seit zwölf Jahren in dem Bereich und hat vor Kurzem das Buch „Game Changing“ geschrieben, in dem sie Gamification zur „Lebensart“ erhebt. Gamification definiert sie als Methode, „Emotionen mit Interaktionen zu verweben und zu gestalten“. Ein einfaches Beispiel ist für Karatas ein Papierflieger: Eine Gamification-Maßnahme könnte sein, vorher auf dem Papier Linien aufzuzeichnen, die ein Bild ergeben, wenn es zusammengefaltet wird. „Das Bauen des Papierfliegers selbst wird zu einer emotionalen Interaktion.“
Karatas will nicht einfach das Verhalten von Menschen ändern, sondern tiefer ansetzen: „Wie soll sich der Mensch bei der Verwendung fühlen?“ Die Frage zielt auf die eigentliche Kerndisziplin hinter dem schwammigen Gamification-Begriff: Game Design. Wer Games kenne und spiele, der verstehe, dass es dabei um das Erlebnis gehe, nicht nur um das möglichst schnelle Erreichen eines Zieles, glaubt Karatas. Vor diesem Hintergrund kritisiert sie den Fokus auf Punkte und Leaderboards. Auch sie sieht die Gefahr, dass das negative Gefühle auslöse. Dass die Maßnahme überhaupt so populär sei, ist für sie auch damit zu erklären, dass „wir in einer Gesellschaft leben, die Leistung mit Punkten, Noten, Treppchen und so weiter belohnt“.
Bei Karatas klingt an, dass Gamification ein Potenzial hat, das wenig erschlossen wird. Vielleicht könnte sie uns nicht nur motivieren, sondern auch glücklicher machen. Das muss kein Grund sein, den hart erarbeiteten Duolingo-Streak aufzugeben. Doch vielleicht ist es hilfreich, die eigenen Motivationen ab und an zu hinterfragen. Ein Streak ist kein Selbstzweck.