Der Vater will ein Wechselmodell, bei dem das Kind abwechselnd bei Vater und Mutter lebt. „Das wäre für unser Kind nicht gut gewesen“, sagt Anna. Therapeutin und Kindergärtnerinnen hätten das bestätigt. Doch der Richter habe auf den gerichtlich bestellten Gutachter gehört. Anna findet, dieser habe Gespräche verdreht, Details aus Beobachtungen weggelassen. Er beschreibt sie, die Mutter, als „bindungsintolerant“, wirft ihr vor, in einer „Symbiose“ mit dem Kind zu leben. Ihre Tochter habe vor Gericht immer wieder gesagt, dass sie bei der Mutter wohnen möchte. Anna wird Manipulation vorgeworfen. „Dieser Vorwurf ist kaum widerlegbar. Am Ende wurde mir vorgeworfen, dass ich kindeswohlgefährdend bin.“
Das Sorgerecht bekommt der Vater. Auch heute, nach mehreren Jahren, sage die Tochter weiterhin, dass sie bei der Mutter wohnen möchte, sagt Anna. Aber darauf werde nicht gehört: „Ihre Meinung wird einfach übergangen.“
Laut einer neuen Studie handelt es sich bei Annas Fall nicht um einzelnes Versagen eines Familiengerichts. Erstellt hat sie der Hamburger Soziologe Wolfgang Hammer. Er engagiert sich im Netzwerk „In dubio pro infante“, das sich für eine bessere Qualifikation von mit Kinderschutz befassten Berufen einsetzt und die in Sorgerechtsprozessen verwendeten psychologischen Zuschreibungen anzweifelt.
Hammer hat die vom Netzwerk beklagten Missstände durch mehrere Studien belegt. Nun hat er Medienberichte über 154 Familienrechtsfälle aus dem Zeitraum 2008 bis 2024 untersucht und festgestellt: Es gibt ein Muster. Es zeigten sich „deutschlandweit gefährdende Mechanismen und Wirkweisen in familienrechtlichen Verfahren“, heißt es in der Studie, die dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) vorliegt. Mütter werden demnach bei Umgangs- und Sorgerechtsentscheidungen benachteiligt.
Im Zentrum der Studie steht der Umgang mit einer Annahme, die als wissenschaftlich überholt gilt und etwa in Leitfäden für Ärzte nicht mehr empfohlen wird: die absichtliche Entfremdung eines Elternteils vom Kind (Parental Alienation Syndrome, PAS). In der Studie heißt es, das PAS könne nach wie vor „einen zentralen Stellenwert bei Jugendämtern und in familienrechtlichen Verfahren haben“. Mütter würden dabei als „Störfaktor in der Beziehung des Kindes zum Vater“ dargestellt, die Kontakte zum Vater aus egoistischen Motiven einschränkten. Macht- und Kontrollverhalten von Vätern würde häufig ignoriert oder verharmlost.
In 147 der 154 analysierten Fälle werde beim Streit ums Sorgerecht von „Mutter-Kind-Symbiose“ oder von „psychischen Störungen der Mutter“ gesprochen, um etwa die Inobhutnahme von Kindern zu begründen. „Sobald die PAS-Vorannahme in familienrechtlichen Verfahren angewandt wird, besteht für Kinder und Mütter kaum eine Chance, dem zu entkommen“, heißt es in der Studie.
Mit diesen Mechanismen sah sich auch Marie* konfrontiert. Sie trennte sich vom gewalttätigen und trinkenden Vater ihrer Kinder. Erst habe der Vater keinen Kindeskontakt gewollt, doch als sie einen neuen Partner fand, sei er vor Gericht gezogen, erzählt sie am Telefon. Zunächst habe der Vater begleiteten, dann unbegleiteten Umgang mit den Kindern gehabt. Irgendwann habe eine Tochter von Schlägen berichtet, sie habe Hämatome am Körper gehabt. Zum Vater habe sie nicht mehr gewollt.
Nun geht Marie vor Gericht, um die Aussetzung des Umgangs zu erreichen. Sie habe Zuspruch vom Jugendamt und Kindergarten bekommen, sagt sie. Doch vor Gericht habe die Verfahrensbeiständin, die Minderjährige automatisch bekommen, gegen sie ausgesagt. Auch hier sind die Vorwürfe: Manipulation und Bindungsintoleranz. „Ich wurde vor Gericht sogar einmal als geistig behindert beschimpft“, erzählt sie. Nicht dem Vater, sondern ihr seien Missbrauch und Kindeswohlgefährdung vorgeworfen worden. Die im Gutachten erwähnte Impulskontrollstörung des Vaters sei nicht erwähnt worden.
Ihm wird das Sorgerecht zugesprochen. Erst das Oberlandesgericht gibt Marie recht und stellt fest, dass das Urteil der ersten Instanz nicht mit den Unterlagen und Gutachten übereinstimmt. Doch auch das OLG urteilt, dass selbst gewaltbetroffene Mütter eine Bindungstoleranz zum Vater zeigen müssen.
„Es ist ein Skandal, dass frauenfeindliche, unwissenschaftliche Annahmen in unserem Rechtsstaat verwendet werden“, kritisiert Studienautor Hammer. Auf diese Weise werde Täter-Opfer-Umkehr betrieben. „Gewalt in Beziehungen zwischen Eltern und Kindern und Frauen und Männern wird dabei legitimiert.“
* Die Namen der betroffenen Frauen sind der Redaktion bekannt. Sie wurden auf deren Wunsch anonymisiert.