„Ich habe auch vor meinem Unfall viel mit den Händen gemacht, aber diese Liebe zum Handstand hatte ich bis dahin nicht verspürt.“ Schon als Kind hat die junge Frau aus Salzgitter geturnt. „Ich war ein sehr aktives Kind“, erzählt sie, „für meine Eltern gab es gar keinen anderen Weg, als mich in den Sport zu stecken.“ Als Mädchen holte sie mit ihrer Mannschaft bei den Deutschen Meisterschaften in Halle Bronze, hat als Zwölfjährige allerdings mit dem Turnen aufgehört. „Der Leistungsdruck war einfach zu groß.“ Die doppelte Belastung auf dem Gymnasium und dann noch das Training im Turnzentrum Hannover, eine gute Stunde Fahrtzeit von zu Hause entfernt, war zu viel.
Dann machte sie eine Entdeckung, die noch viel weiter von zu Hause entfernt war. Sie stieß auf die Staatliche Ballett- und Artistenschule in Berlin, die einzige im Land. Nach wenigen Probetagen war sie sicher: „Es ist meine Welt, in der ich aufblühen kann.“ Also packte das zwölf Jahre alte Mädchen ihre Sachen und zog aufs Internat. Und wie war das so ohne Familie? Mutter Natalie (46), Papa Pavel (49) und ihre jüngere Schwester Jana (18) hatte sie ja nicht die ganze Zeit um sich herum.
„Anfangs war es schon schwer. Was auch daran gelegen hat, dass ich den ersten Monat allein auf dem Zimmer war“, erinnert sie sich. Danach zog ein Ballettmädchen mit ein, „dann wurde es leicht. Die anderen und ich wurden eine Community, haben uns im gleichen Szenario befunden, uns unterstützt.“ Das sollte für die folgenden siebeneinhalb Jahre so bleiben, in der Zeit absolvierte Lokaichuk ihr Abitur und ihre Ausbildung.
Viele wissen oft nichts damit anzufangen, wenn sie erzählt, dass sie staatlich geprüfte Artistin ist, Verwandte nicht ausgeschlossen. Auf Anmerkungen wie „Das kannst du ja eh nur ein paar Jahre machen, danach kannst du ja etwas Richtiges kümmern“ ist ihrerseits Diplomatie wie Aufklärungsarbeit gefragt. „Mein Beruf unterscheidet sich vom Leistungssport, es ist Kunst.“ Während ein Hochleistungssportler quasi nur einmal für den Wettkampf Hochleistungstricks zeigt, fokussiert sich Lokaichuk auf etwas, was sie öfter machen kann, „etwas Einzigartiges“.
Gefunden hat sie es bereits: In ihren Nummern kombiniert die 21-Jährige den statischen Handstand auf Handstandstützen mit Drehungen. „Das habe ich bislang noch nie gesehen“, erzählt sie. Gelegenheit zu schauen, hatte sie. Sogar weltweit. Sie ist in der Schweiz, Wien und Leipzig aufgetreten. Beim internationalen Zirkusfestival „Circuba“ in Kuba holte sie die Silbermedaille auf einem Podest, das ihr Großvater für sie gebaut hat. „Er hat den Drehmechanismus eines alten Autorades mit den Standbeinen in einer Scheune zusammengeschweißt.“ Als das Requisit in die Jahre gekommen war, entwarf sie selbst eins und ließ es vom besten Landmaschinenmechaniker der Welt zusammenbauen: Cedric Lang ist 2024 bei den Berufsmeisterschaften „WorldSkills“ in Frankreich tatsächlich Erster geworden. 135 Arbeitsstunden später hatte sie ihr individualisiertes Podest, die gedrehten Metallstangen ähneln witzigerweise den Wurzeln eines Baumes. „Ich habe mich von der Natur inspirieren lassen, die schafft von null aus vieles. In meiner Kunst ist das auch so.“ Es ist erstaunlich, wie erwachsen die Handstand-Äquilibristin – so der Fachjargon – im Gespräch mit uns wirkt. Darauf angesprochen, hat sie eine Erklärung: „Ich bin sehr jung von zu Hause weg, habe mit zwölf allein geputzt und Wäsche gemacht. Trotzdem habe ich nicht das Gefühl, erwachsen zu sein“, gesteht Joana Lokaichuk lachend. „Früher dachte ich immer, dass ich mit 21 ein Haus und Familie habe.“ Ihr Freund Vincenz Lang, ebenfalls ein Artist, ist dafür ja schon mal ein guter Anfang.
Er wird sich sicher die Darbietung seiner Freundin in Hannover angucken. Bis zum 5. Januar gastiert der Weihnachtscircus auf dem Schützenplatz, je nach Sitz (Rang oder Loge) kosten Tickets zwischen 23,90 und 64,90 Euro.
Mehr Informationen gibt es online auf der Website www.weihnachtscircus-hannover.com. Für Vorstellungen zwischen dem 1. und 3. Januar gibt es 25 Prozent Neujahrsrabatt.
Nicht nur Joana Lokaichuks Freund ist dabei: „Mein alter Turnverein MTV Jahn-Schladen kam zur Premiere, die Familie ist an Heiligabend dabei“, freut sie sich. „Ich habe noch nie in der Nähe meines Heimatortes gespielt. Endlich haben meine Angehörigen keine weite Anreise.“