Vielen Hannoveranern gilt das Ihme-Zentrum als verlorener Ort, als Schandfleck und im Zweifel sogar Abrissobjekt. André Roegglen, manchem eher bekannt als DJ Lunatic, schüttelt zu solchen Vorurteilen nur den Kopf. „Ich möchte nirgendwo anders mehr leben“, sagt er.
Aktuell sind die Nachrichten aus dem Ihme-Zentrum mal wieder überwiegend trostlos. Der Haupteigentümer befindet sich im Insolvenzverfahren, der Hauptgläubiger will die Zwangsversteigerung von etwa 80 Prozent der Immobilie. Alle Wohnungseigentümer müssen pro Jahr Tausende Euro Sonderopfer für die zahlungsunfähige Tochterfirma von Lars Windhorst mitbezahlen. Das sind eher bittere Nachrichten.Gewissermaßen als Gegenpart haben wir die coolste Wohnung im Ihme-Zentrum gesucht. Es ist bekannt, dass es ungewöhnliche Apartments im Haus gibt. Teils sollen noch orangefarbene Einbauküchen im Siebzigerjahrestil konserviert sein. Es gibt Wohnungen mit riesigen Dachterrassen und aktuell eine, in der der gesamte Wohnraumboden in Handarbeit mit Kronkorken gefliest wird. Wir aber haben uns für eine Wohnung im Hochhaus an der Ihmepassage entschieden, in der der 47-jährige Roegglen mit seiner vierjährigen Hündin Greta wohnt.
Ob es die coolste ist? „Weiß ich nicht“, sagt Roegglen bescheiden: „Ich kenne ja nicht alle.“ Aber es spricht einiges dafür.
Aus dem 13. Stockwerk weitet sich ein traumhafter Blick über Hannover. Von zwei der Balkone schaut man nach Südosten auf das Innenstadtpanorama mit Rathaus und Marktkirche sowie Stadion und mehr. Der dritte Balkon ist etwas kleiner, das Auge schweift über die einstige Einkaufspassage im Ihme-Zentrum und dann weiter auf den Küchengarten und Linden-Mitte.
Seit sieben Jahren wohnt Roegglen in der 100-Quadratmeter-Wohnung im Ihme-Zentrum. Damals war er mit einer Freundin eingezogen. „In der Corona-Zeit habe ich die Weite des Raums schätzen gelernt“, sagt er.
Und die Tragkraft der Wände. Etwa 8000 Schallplatten besitzt der DJ. Sie sind in riesigen Regalen an einer Wohnraumwand gestapelt. „Ich habe mal einen Architekten gefragt, der am Bau des Ihme-Zentrums beteiligt war, ob die Platten zu schwer werden“, sagt Roegglen. Der aber habe nur gelacht. „Da kannst Du noch einen Panzer dazustellen“, habe er bildhaft geantwortet.
Natürlich: Der Weg in die Wohnung führt durch die sanierungsbedürftigen Sockelgeschosse, die nach mehreren abgebrochenen Umbauversuchen teils aussehen wie in einem Bürgerkriegsland. Doch sobald man die Tür zum Hauseingang hinter sich geschlossen hat, ist die Welt eine andere. Die privaten Wohnungseigentümer in den Einzelhäusern haben immer auf den Zustand ihrer Immobilien geachtet. Es sind nur die Gemeinschaftsflächen in den Sockeletagen, die schlimm aussehen.
Auch Roegglen, im Hauptberuf Angestellter der kommunalen Stadtteilkultur, konnte sich bei der Wohnungssuche 2017 zunächst kaum vorstellen, ins Ihme-Zentrum zu ziehen. „Aber sobald ich in der Wohnung stand, war ich hin und weg“, sagt er. Die Grundrisse sind durchdacht, Küche und Bad sind als Nutzräume eher klein, der Wohnbereich dafür großzügig. Der Vormieter hat sogar eine Zimmerwand in Sichtbeton veredelt – das passt zum Gebäudestil.
„Als Mieter ist es toll im Ihme-Zentrum – Eigentümer möchte ich hier nicht sein“, sagt Roegglen und spielt auf die prekäre Finanzsituation der Gemeinschaft an. Weil die Firma des Haupteigentümers Lars Windhorst die Hausgeldzahlung eingestellt hat, müssen alle Einzeleigentümer mitbezahlen. Bei Roegglens Wohnung sind es fast 500 Euro Zusatzkosten im Monat für den Eigentümer.
„Die äußeren Umstände hier sind schon bitter“, sagt er, „aber für mich als Mieter kann ich mir kaum etwas Besseres vorstellen.“