Die US-Autorin und Ärztin Saundra Dalton-Smith kennt das Gefühl des ewigen Ausgelaugtseins nur zu gut. Mit Mitte 30 hatte sie einen Burn-out. „Ich verdiente gut, ein hohes sechsstelliges Gehalt, hatte mehrere Buchverträge, eine Familie – viele Leute hätten gesagt, ich lebe den Traum“, berichtet Dalton-Smith im Video-Call und ergänzt: „Aber kein Teil davon fühlte sich gut an. Ich war so unglücklich und erschöpft. Ich war an einem Punkt, an dem ich mir nicht mehr sicher war, ob das Leben lebenswert ist.“
Dalton-Smith dachte zunächst, dass es einfach der Schlaf war, der ihr fehlte. Als Klinikärztin arbeitete sie im Schichtdienst, hatte viel Stress und keinen geregelten Tagesrhythmus. Und Studien zeigen schließlich immer wieder, wie wichtig Schlaf für unser Wohlbefinden ist. Doch auch neun Stunden Schlaf änderten nichts an der Dauermüdigkeit. „Ich war an einem Punkt, den ich von vielen meiner Patienten kannte: Ich schlief, ruhte mich aus, fuhr in den Urlaub – und war trotzdem völlig ausgelaugt“, sagt Dalton-Smith. „Es war zum Verzweifeln. Man weiß nicht mehr, was einem noch helfen soll, weil man schon alles versucht hat.“
Aber Dalton-Smith gab nicht auf. „Ich bin ja selbst Medizinerin, also führte ich eine Liste meiner Aktivitäten“, erzählt sie. „Ich fragte mich: Was ermüdet mich, was gibt mir neue Energie?“ Was sie dabei lernte, war erstens, dass Urlaube oder Schlaf keine Lösung sind, wenn es um Burn-out geht. Und zweitens: Wer sich erholen will, muss erst mal wissen, was ihn oder sie erschöpft.
Dalton-Smith hat ein ganzes Buch darüber geschrieben:„Reset – Programmieren Sie Ihr Leben neu“ (Reichel). Darin unterscheidet sie sieben Arten der Ruhe(defizite): emotional, sozial, körperlich, mental, geistig, sensorisch und kreativ. Ihr Tipp: „Man sollte sich immer die Frage stellen, wie habe ich heute Energie verbraucht? Was fühlte sich anstrengend an? Wann fühlte ich mich müde, erschöpft?“, sagt Dalton-Smith.
Um sich zu erholen, müsse man dann einfach das Gegenteil davon tun: „Wenn Sie den ganzen Tag in Zoom-Calls waren, haben Sie wahrscheinlich ein sensorisches Ruhedefizit und das Bedürfnis nach einer reizarmen Umgebung. Ein Buch zu lesen, könnte dann die richtige Erholungsform sein.“ Nach einem langen Arbeitstag an dem man seine wahren Gefühle hinter einem Lächeln verstecken musste, habe man dagegen oft ein emotional-soziales Ruhedefizit. „Wer sich dann aufs Sofa legt, ist am Ende genauso erschöpft wie vorher“, sagt Dalton-Smith. Was stattdessen hilft: Eine zum Defizit passende Erholungsstrategie, sich also zum Beispiel mit vertrauten Menschen umgeben.
„Das kann ein offenes Gespräch mit dem Partner sein oder ein Abend mit Freunden in einer Bar. Wichtig ist nur: Man darf nicht das Gefühl haben, sich verstellen zu müssen. Denn das kostet ja wieder Energie.“
Aber die richtige Erholungsform sei eben – je nach Persönlichkeit und Tagesform – unterschiedlich. „Extrovertierte können auch in Gesellschaft ihre Ressourcen wieder gut auffüllen, Introvertierte brauchen eher Zeit für sich“, sagt Dalton-Smith. „Wir können nicht einfach sagen, ‚Schlaf acht Stunden, dann geht es dir wieder gut.‘ Wir sind facettenreiche Wesen und auch das Bedürfnis nach Ruhe ist höchst individuell.“
Von allen Ruhedefiziten werde die kreative Ruhe am meisten unterschätzt, meint Dalton-Smith. Die ist nicht nur für Künstlerinnen und Musiker relevant: „Sobald man in irgendeiner Form von Problemlösung beteiligt ist, verbraucht man kreative Energie.“ Das reiche von innovativen Ideen in einem Unternehmen bis zum Diagnoseprozess in der Klinik. „Wir unterschätzen die Notwendigkeit, diese Energiereserven wieder aufzufüllen. Wenn man das nicht tut, verliert man die Leidenschaft für einen Beruf, der einem eigentlich mal Freude bereitet hat.“ Eine gefährliche Fehleinschätzung, denn der Verlust von Freude ist auch eines der drei Kriterien der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für eine Burn-out-Diagnose.
Aber was führt eigentlich dazu, dass sich viele Menschen so ausgelaugt fühlen? Psychologie- und Erholungsforscher Gerhard Blasche forscht am Zentrum für Public Health der Medizinischen Universität Wien. Ein Faktor ist nach seiner Einschätzung der stetige Wachstumsdruck in der Arbeitswelt. „Obwohl wir schneller sind und die Produktivität steigt, bleibt der Zeitdruck hoch oder steigt sogar noch“, sagt er. „Die generelle gesellschaftliche Erwartung ist, dass Entwicklungsprozesse schneller ablaufen. Wir erwarten, dass schon in einem Jahr, in einem Monat, ein neuer Impfstoff oder ein neues technisches Gerät am Markt ist, die Batterien der Autos besser werden und möglichst die doppelte Kapazität haben. Das trägt dazu bei, dass der Druck wächst.“ Auch würden die natürlichen Erholungsinseln während der Arbeitszeit durch die Verdichtung zunehmend wegfallen. „Man muss Pausen aktiv planen – sonst gibt es einfach keine. Das macht es schwer, zur Ruhe zu kommen.“ Auch in der Freizeit gebe es ein wesentlich größeres Angebot als früher.
Wer sich erholen will, solle seine vier Grundbedürfnisse – Ruhe, Autonomie, Zugehörigkeit, Kompetenz – befriedigen. „Nach einem anstrengenden Arbeitsalltag mit hohen Anforderungen braucht es danach eine anstrengungsarme Zeit. Zweitens möchte man selbst bestimmen, was man tut und wie man es tut“, erklärt Blasche. „Drittens brauchen wir das Gefühl, dass uns etwas gelungen ist.“ Das könne auch etwas ganz Einfaches sein wie Kochen oder Gartenarbeit. Außerdem brauche man eine gute Portion sozialer Kontakte. Im Laufe einer Woche sollten diese Bedürfnisse befriedigt werden, rät Blasche. „Sonst wird man mürrisch und verzagt.“
Saundra Dalton-Smith leitet mittlerweile eine Beratungsagentur für Wohlbefinden. Sie hat auch eine gute Nachricht für all die, die sich ausgelaugt fühlen: Es wird wieder besser. Als sie begann, aufzutanken, ging es ihr schlagartig besser. „Wie schnell es ging, hat mich am meisten überrascht. Ich war ein ganz anderer Mensch“, sagt sie. „Es war noch nicht wieder alles im grünen Bereich, aber ich hatte plötzlich wieder genug Energie, um die anderen Bereiche anzugehen.“