Banning lernte Boyer vor gut zehn Jahren kennen, als der für eine Geschichte über die Justizsysteme in unterschiedlichen Ländern fotografierte und dabei die Erlaubnis bekam, im Frauengefängnis von Atlanta im US-Bundesstaat Georgia die Inhaftierten zu porträtieren. Auch diese Serie hängt in der GAF – in der Mitte, durch einen Lichtfleck hervorgehoben: Christina Boyer. Banning, einer der prominentesten Fotografen seines Landes, blieb bei der Nachrecherche am Fall Boyer hängen – und an vielen Ungereimtheiten, die zu ihrer Verhaftung und Verurteilung führten. Boyer, adoptiert und in ärmlichen Verhältnissen voller Gewalt aufgewachsen, war mehrfach verheiratet und geschieden.
Als ihre Tochter Amber aufgrund stumpfer Gewalteinwirkung auf Kopf und Bauch ums Leben kam, war sie gar nicht zu Hause, sondern nur ihr damaliger Freund. Beide beschuldigten sich anschließend gegenseitig, der Freund bekam 20 Jahre wegen Kindesmissbrauchs und ist wieder frei, Boyer wurde wegen Mordes angeklagt, weil sie ihr Kind nicht rechtzeitig zum Arzt gebracht haben soll. Ein Pflichtverteidiger schlug ihr einen sogenannten „Alford Plea“ vor, um der Todesstrafe zu entgehen. Dabei plädieren die Angeklagten auf ihre Unschuld, räumen aber ein, dass es Beweise gibt, die zu ihrer Verurteilung führen können. Fotograf Banning hat recherchiert, dass Boyer diesem Deal seinerzeit vermutlich unter dem Einfluss starker Psychopharmaka zugestimmt hat. Das Urteil 1994: lebenslang wegen Mord, zusätzlich 20 Jahre wegen schwerer Körperverletzung. Seitdem engagiert sich Banning dafür, den Fall wieder aufzurollen und macht ihn mit seinen Möglichkeiten, mit Ausstellungen und Büchern, so öffentlich wie möglich.
Er arbeitet dabei großformatig mit einer Art inszenierter Dokumentation. Er stellt die Szene des damaligen Kindstodes nach, er belichtet das Grab des Kindes auf dem Friedhof nahezu theatralisch, er stellt nach den Aussagen Boyers ein Ensemble von Dingen in einem malerischen Stillleben zusammen, die an Amber erinnern sollen.
Auch das Frauengefängnis ist von außen zu sehen, in dem die Zellen der Inhaftierten keine Fenster haben, sondern nur Lichtschlitze. Deshalb hat Banning Boyer Fotos von der Umgebung gezeigt und sie gebeten, ihre Gedanken dazu aufzuschreiben. „Es ist so schockierend“, schreibt sie zu einer Stadtszene in der Abendsonne, „dass ich die Schönheit, die es da draußen gibt, immer noch sehen und erkennen kann, obwohl die Behörden sie mir vorenthalten wollen.“ Diese Serie ist in der GAF oben auf der Galerie dokumentiert.
Die Ausstellung ist eine, in der die Bilder nicht für sich sprechen, sondern auf Kontext angewiesen sind. Und sie ist auf unterschiedliche Arten beeindruckend. Das Miteinander von strenger Dokumentation und fast werbefotografischer Inszenierung zieht Betrachtende in einen Fall, der nicht abgeschlossen ist, sondern wegen der direkten Beteiligung des Fotografen und letztlich jedes Besuchs der Ausstellung ein aktueller Vorgang. Die direkte Beteiligung von Boyer gibt ihr eine Stimme, die sie während des gesamten Falls nie hatte. Und an den vielen Dutzend Porträts der inhaftierten Frauen, nach zähen Verhandlungen in kürzester Zeit entstanden, kann man seine eigenen Vorverurteilungsambitionen überprüfen.
„The Verdict“, bis 28. April, GAF, Seilerstraße 15d.