Heute, zehn Jahre später, geht es der hannoverschen Gothic-Ikone der 1990er-Jahre richtig gut: Fit wirkt er und sportlich. Eine Erfolgsgeschichte, denn: Ecki Stieg hat tatsächlich seine „Ersatzsucht“ gefunden – im Radfahren. So kommt er auch zu unserem Treffpunkt zum Steinhuder Meer geradelt: schwarzes altes Rennrad, schwarze Kleidung, schwarzer Helm, schwarzer Lidstrich, selbst sein Getränk ist schwarz: Zwei Cola-Light-Flaschen hat er im schwarzen Rucksack. So fällt er auf, der schwarze Mann auf dem Fahrrad, auch wenn ihm das nicht auffällt.
Während wir am Ufer entlangfahren, erzählt er. Täglich fahre er Fahrrad, gerne auch weite Strecken bis 140 Kilometer. „Das Fahrradfahren entschleunigt den Tag und gibt mir Struktur“, sagt er und fügt an: „Ich habe vorher schon sehr planvoll gelebt – wenn Du willst, dass dein Alkoholismus nicht auffällt, musst du strukturiert sein. Ich habe bei öffentlichen Terminen nicht getrunken, daher musste ich immer rechnen: Wann kann ich trinken, reicht der Pegel für die Zeit dazwischen, brauche ich das Auto ... Ich war an dem Punkt angekommen, an dem der Alkohol komplett mein Leben diktiert hat.“ Es sei purer Stress gewesen, alle Menschen ständig zu belügen, um die Fassade aufrechtzuerhalten.
„Ich habe mich damals in dem Interview mit Dir als Alkoholiker geoutet“, sagt Stieg, „weil ich mein neues Leben nach dem Alkohol nicht gleich wieder mit einer Lebenslüge anfangen wollte. Ich stehe zu dieser Krankheit, lebe offen mit ihr.“ Mit dem Gang an die Öffentlichkeit hätten die Menschen auch mehr Verständnis gezeigt, wenn er nicht mittrinke.
Wir radeln weiter. In Mardorf, am Fliegenpilz, auch „Klück’s Pilz“ genannt, halten wir, trinken schwarzen Kaffee. Der Fliegenpilz ist ein kleiner Imbiss aus den 1950er-Jahren, den wir beide aus unserer Kindheit kennen. Stieg erzählt weiter: Alkoholiker zu werden sei ein schleichender Prozess. Alkohol unter Erwachsenen sei in seiner Jugend nie ein Tabuthema gewesen. Das Bier am Abend, der Wein bei Feiern, der Schnaps nach dem Essen – Normalität in deutschen Haushalten. Und irgendwann trank er mit.
Sich einzugestehen, dass man Alkoholiker ist, sei sehr schambehaftet. Erst in der Therapie habe er verstanden: „Alkohol ist eine Krankheit.“ Als Pegelalkoholiker habe er unter Schlafmangel gelitten, sei depressiv geworden, habe suizidale Träume gehabt. Den Menschen sei er mit großem Zynismus begegnet. „Ich habe viele Freunde immer wieder belogen, ich kann gut verstehen, dass sie mir nicht mehr die Hand reichen!“ Wir radeln weiter, vorbei an Wiesen, durchs Feuchtgebiet. Auf den Schotterwegen fahren wir langsamer, mit den dünnen Rennradreifen hat Stieg weniger Halt. Wir bestaunen die schöne Landschaft.
Sein Leben sei so viel freier geworden, lebenswerter, sagt er. Mit seiner Geschichte will er auch anderen Mut machen, den Schritt zu wagen. „Dafür braucht man professionelle Hilfe“, mahnt er. „Es reicht nicht, nur den Entzug zu machen. Dann gehst du zurück in dein altes Leben und alles fängt von vorne an.“ Eine seiner größten Sorgen sei gewesen, nüchtern nicht mehr schreiben zu können. „Alkohol war mein kreativer Schmierstoff: Ich habe die besten Essays unter Alkohol und Amphetaminen verfasst.“ Als er die Reißleine für sich gezogen habe, habe er sein altes Leben komplett hinter sich gelassen. Er habe sich von seiner damaligen Freundin getrennt, seinen Job gekündigt, alles hinter ihm abgeschlossen. „Die Abkehr vom Alkohol beginnt im Kopf. Nur mit einer Therapie ist das zu schaffen. Du kommst als völlig neuer Mensch heraus“, erzählt er. Man müsse sich auf das neue Leben einlassen.
Als Folge der Nervenschädigung durch Alkohol habe er nicht mehr richtig laufen können. „Radfahren ging – dabei bin ich geblieben!“ 20.000 Kilometer sei er allein im Jahr nach der Therapie gefahren. Beim Radfahren könne er am besten nachdenken. Auch arbeiten: Ganze Sendungen habe er auf dem Rad zusammengestellt. Die „Grenzwellen“bei Radio Hannover mittwochs von 21 bis 0 Uhr sind eine reine Autorensendung. Ecki Stieg schreibt, moderiert, führt die Interviews, produziert sie vor. Finanziert wird sie allein über Spenden.
Wir sind in Steinhude. Ich entscheide mich, noch die Runde durchs Tote Moor mitzufahren. Die sumpfige Landschaft ist wunderschön – ich freue mich, dass ich nicht auf kurzem Weg abgebogen bin, dann hätte ich das verpasst.
Heute sei er froh über sein neues Leben, erzählt Stieg. „Ich habe damals im Interview einen weiteren wichtigen Satz gesagt: Was jetzt kommt, ist nur noch Bonusleben.“
Es sei ihm bewusst, wie zerbrechlich diese geschenkte Zeit sei: „Die Liste der Toten – von Verwandten und Freunden – ist sehr, sehr lang in den letzten Jahren geworden. Auf der einen Seite bin ich froh, dass mir das bisher erspart geblieben ist, auf der anderen Seite fehlen vertraute Weggefährten und man wird einsam.“ Aber es kommen auch neue hinzu: In seinem Elternhaus – seine Mutter ist während der Coronazeit verstorben – lebt heute eine ukrainische Musikerfamilie. Er freut sich, den kleinen Sohn heranwachsen zu sehen. Für ihn selbst hätten Kinder nie ins Lebenskonzept gepasst, sagt er.
In den zehn Jahre habe er keinen Rückfall gehabt– auch nicht, wenn in seiner Umgebung Menschen Alkohol trinken. Er rauche nur noch Liquids, keine Zigaretten mehr. Er lebe gesund, ernähre sich vegetarisch, meist vegan.
Er lebt mit seiner Freundin und Katzen in einem Haus in Linsburg. „Wenn es mir jetzt mal schlecht geht, denke ich an die Zeit vor 2013 – das relativiert alles“, sagt Stieg. Selbst bei dem Gedanken an den Tod verspüre er eine gewisse Gelassenheit: „Das wäre Scheiße, aber ich erlebe jetzt Jahre, die ich mir eigentlich nicht zugestanden habe. Ich bin 63 und gesund – was will ich mehr?!“