Die Menzels hatten das Gepäckstück nie geöffnet, berichtet Schlüter: „Der Koffer war wie ein Heiligtum.“ Nach dem Tod der Schwiegereltern Rosa und Heinrich holten Schlüter und seine Frau Gabriele den Aluminiumkoffer zu sich. „Am 9. Oktober 2011 haben wir ihn geöffnet.“ Die Schlüters fanden darin zahlreiche Dokumente - handschriftlichen Notizen, Briefe, Bücher und Zeitungsartikel, die Rückschlüsse auf das Leben von Norbert Kronenberg zuließen. „Wir haben tagelang darin gelesen. Und mit jedem Blatt verstanden wir besser, wie Norbert Kronenberg damals gedacht hat und wie sehr er gelitten haben muss.“
Obwohl Schlüter nicht einmal Kronenbergs Gesicht kennt - ein Foto gibt es nicht - lässt ihn das Schicksal des Hannoveraners bis heute nicht los. Jahrelang recherchierte der Laatzener in Archiven, Büchereien und Gedenkstätten, um mehr über den Besitzer des zurückgelassenen Koffers herauszufinden. Im September 2022 reiste der heute 84-Jährige sogar nach Riga und begab sich in der lettischen Hauptstadt sowie den umliegenden Gedenkstätten auf Spurensuche.
Die Ergebnisse seiner umfangreichen Recherchen hat Schlüter – seine Frau verstarb 2021 – jetzt in einem Buch veröffentlicht. „Mit der Dokumentation möchte ich das Schicksal von Millionen von Juden in Deutschland an einem konkreten Beispiel aufzeigen“, nennt Schlüter seine Motivation für das Projekt, in dem er den Weg der Deportation von Hannover bis zum Rigaer Getto und weiter bis zum Lager Salaspils nachzeichnet. Dort kam Kronenberg - so hat es Schlüter recherchiert - mutmaßlich ums Leben.
„Ich habe an dem Buch rund zweieinhalb Jahre gearbeitet“, erzählt der Laatzener. „Als ich im Sommer 2021 mit meinen Recherchen begann, stand der Entschluss bereits fest, daraus eine Dokumentation zu machen.“ Um seine Veröffentlichung möglichst würdevoll zu gestalten, habe er „viele Stunden lang“ mit einer Mitarbeiterin der Gleidinger Druckerei Schmidt zusammengesessen, bei der Schlüter das Buch in einer Auflage von 150 Exemplaren drucken ließ.
„Ich habe ihr die ganze Geschichte erzählt, damit sie einen Eindruck bekommt. Das Buch sollte Würde ausstrahlen und keine reine Dokumentation sein.“ Um Kronenbergs Schicksal und die Recherchen rund um den Koffer verständlich zu vermitteln, habe er sich um eine möglichst klare Sprache bemüht und viele Fotos verwendet, von denen die meisten in Riga und Umgebung entstanden sind. „Die Bilder sagen weit mehr aus als Umschreibungen“, glaubt der Alt-Laatzener. Für seine Recherchen arbeitete Schlüter auch mit dem ZeitZentrum Zivilcourage in Hannover zusammen. „Ich habe dort viele Tipps bekommen, wo ich noch recherchieren kann.“ Auch Kronenbergs Koffer hat der 84-Jährige an das ZeitZentrum übergeben. „Wir hatten meinen Schwiegereltern versprochen, den Koffer genauso zu schützen, wie sie es getan haben. Es war mir und meiner Frau aber ebenfalls wichtig, dass er für die nachfolgenden Generationen erhalten bleibt.“ Das quadratische Format des Buches orientiert sich an den Veröffentlichungen des Grasdorfers Helmut Flohr, der seine historischen Bücher ebenfalls bei der Gleidinger Druckerei herstellen ließ. „Die Aufmachung hat mir gut gefallen“, so Schlüter. Damit Schülerinnen und Schüler mit seinem Material arbeiten können, will Klaus-Jürgen Schlüter sein Werk auch der Bücherei der Albert-Einstein-Schule zur Verfügung stellen. In der Laatzener KGS hatte Schlüter im Januar 2023 über den Koffer und seine Geschichte berichtet. „Nach dem Vortrag haben viele Schülerinnen und Schüler mit mir über den Koffer gesprochen.“ Später habe ihm der Geschichtslehrer Wilhelm Paetzmann den Brief einer Schülerin übergeben. „Sie schrieb mir, dass sie durch den Vortrag den Mut gefunden hat, mit ihrer Oma über die damalige Zeit zu sprechen. Dies zeigt, dass die jungen Leute wissen möchten, was damals geschehen ist.“ Mit seiner Veröffentlichung will Schlüter dazu beitragen. „Das Schicksal von Norbert Kronenberg kann man millionenfach multiplizieren. Es ist mir wichtig, dass die Nachwelt sich an diese furchtbare Zeit erinnert.“ Seine Dokumentation über das Leben sowie die Deportation und Ermordung von Norbert Kronenberg bietet Schlüter unter dem Titel „Ein Hannoveraner ... ohne Bild, nur sein Koffer, sein Schicksal - unsere Gedanken“ im Eigenvertrieb an. Das Buch kostet 19 Euro und kann per E-Mail an emmaderwolf@gmx.de bestellt werden. Am Sonntag, 20. Oktober, berichtet Schlüter zudem in der Gedenkstätte Ahlem über seine Recherchen. Auch dort wird das Buch zu haben sein. Die Uhrzeit steht noch nicht fest.